Harmonie
Harmonie bezeichnet den Zusammenklang (das gleichzeitige Erklingen) mehrerer Töne, der den Eindruck der Mehrstimmigkeit erzeugt und beim Hörer aufgrund bewußter oder unbewußter ästhetischer Wahrnehmungskonventionen unterschiedliche Empfindungen auslöst. In der westlichen Auffassung ist Harmonie der am stärksten ausgebildete Teil der Musiklehre. Die Konventionen (das harmonische Regelwerk) werden als Harmonik bezeichnet. Musikalisch realisiert wird Harmonie durch Akkorde. Die Harmonie bildet die vertikale Struktur eines Stückes, während Melodie und Rhythmus seine horizontale Struktur ergeben.
Metaphorisch gesprochen gilt:
Die Melodie ist der Körper, die Harmonie die Bekleidung, die mit der Mode wechselt.1)
Allerdings ist wohl jede Vorstellung von Harmonie an psychoakustische Phänomene gebunden:
Es scheint in der Tat schwierig zu sein, eine andere Grundlage für eine harmonische Theorie zu finden, die behauptet, universell zu sein.2)
Charakter der Tonarten
In der traditionellen Musiktheorie wird immer wieder der Versuch unternommen, die Wirkung bestimmter Klangfolgen auf die Gefühle (Affekte) der Hörer mit den gewählten Tonarten und Harmonien zu verbinden. Allerdings hat bereits Johann Joachim Quantz festgestellt, daß diese Zuschreibungen nicht zwangsläufig sind:
Wegen der gewissen Tonarten, sie mögen Dur oder Moll sein, besonders eigenen Wirkungen, ist man nicht einig. Die Alten waren der Meinung, daß eine jede Tonart ihre besondere Eigenschaft und ihren besondern Ausdruck der Affekten hätte. Weil die Tonleitern ihrer Tonarten nicht alle einander gleich waren …; weil folglich fast jede Tonart ihre besonderen Arten zu kadenzieren hatte: so war diese Meinung hinlänglich gegründet. In den neuern Zeiten aber, da die Tonleitern aller großen und die Tonleitern aller kleinen Tonarten einander ähnlich sind, ist die Frage, ob es sich mit den Eigenschaften der Tonarten noch so verhalte. Einige pflichten der Meinung der Alten noch bei: andere hingegen verwerfen dieselbe, und wollen behaupten, daß jede Leidenschaft in einer Tonart so gut als in der andern ausgedrücket werden könnte, wenn nur der Komponist die Fähigkeit dazu besäße. Es ist wahr, man hat Exempel davon aufzuweisen; man hat Proben, daß mancher eine Leidenschaft in einer Tonart, die eben nicht die bequemste dazu scheint, sehr gut ausgedrücket hat. Allein wer weiß, ob dasselbe Stück nicht eine noch bessere Wirkung tun würde, wenn es in einer andern und zu der Sache bequemen Tonart gesetzet wäre?3)
Entsprechend widersprüchlich und uneindeutig fallen die Beurteilungen europäischer Musiker aus:
Grundton | Dur | Moll |
---|---|---|
C | fröhlich, kriegerisch, frech, zu allem brauchbar, rein, edel, prächtig, glanzlos | unklar, traurig, wütend, verzweifelt, pathetisch, jammernd |
Cis/Des | schielend, dämonisch, exzentrisch, erhaben | verzweifelt, wehmütig, tragisch, unzufrieden |
D | gravitätisch, fröhlich, scharf, glänzend, triumphierend, pompös, feurig, munter | ernst, feierlich, schwermütig, sanft trauernd, düster |
Dis/Es | grausam, wütend, liebend, edel, feierlich, prächtig, männlich | abschreckend, beängstigend, sehr traurig, gräßlich |
E | laut, verzweifelt, traurig, hart, feurig, glänzend, weiblich | traurig, zärtlich, weinend, weiblich |
F | sittsam, wütend, fröhlich, gefällig, besonnen, still | unklar, klagend, traurig, schwermütig |
Fis/Ges | edel, gekünstelt, hart, strahlend | betrübt, finster, schwermütig, tragisch, mißmutig |
G | süß, zärtlich, fröhlich, naiv, sanft, ruhig, anmutig, angenehm, nicht erhaben | ernst, traurig, schwermütig, mißvergnügt, wehmütig |
Gis/As | schwarz, majestätisch, überirdisch, fromm, edel | sehnsuchtsvoll, traurig, erhaben |
A | freudig, demutsvoll, klagend, liebvoll, hoffnungsvoll, vertrauensvoll, stolz, innig | traurig, zärtlich, klagend, fromm, schläfrig |
B | lebhaft, prahlerisch, großartig, ruhig, majestätisch, edel, lieblich, zärtlich, hell, glanzlos | unklar, schrecklich, düster, erhaben |
H | herb, klagend, erhaben, brillant, strahlend | einsam, traurig, bizarr, düster, sanft, wild, brutal |
Häufig handelt es sich allerdings weniger um Eigenschaften, die der Musik an sich innewohnen, als vielmehr um Ergebnisse der musikalischen Aufführungspraxis:
Blechblasinstrumente stehen zum Beispiel in einer bestimmten Stimmung: Hörner von alters her in F, Trompeten in D … Diese Instrumente klingen in „ihren“ Tonarten am besten. Wer also festliche Musik mit Pauken und Trompeten komponieren wollte, wählte früher fast immer D-Dur, daher der Ruf dieser Tonart, glanzvoll zu klingen. Bei manchen Tonarten emanzipierte sich der ihr zugeschriebene Charakter von seiner zunächst instrumentenpraktischen Begründung: Aus dem Brauch, bei Trauermusiken alle Instrumente mit Dämpfern spielen zu lassen, erwuchs der Ruf von E-Dur, eine Trauertonart zu sein; denn mit Dämpfern gespielte Trompeten klingen einen Ton höher, sie stehen dann in E statt in D.4)
Strebetendenz-Theorie
Einen anderen Ansatz verfolgt die von Daniela und Bernd Willimek aufgestellte Strebetendenz-Theorie, welche die Wirkungen von Musik auf die „Identifikationen des Hörers mit Willensvorgängen“ zurückführt und damit als Teil der Psychoakustik definiert. Strebung definieren die Willimeks als „Identifikation mit einem Willen gegen eine Veränderung“.5) Bei Dur-Akkorden empfindet der Hörer eine gewisse Spannung, mit der er jedoch einverstanden ist; bei Moll-Akkorden ist er dagegen gefühlsmäßig nicht einverstanden. „Das Erlebnis beim Hören eines Mollakkords entspricht der Information, die man erhält, wenn jemand sagt ich will nicht mehr.“6) Die Wirkung bestimmter Akkorde haben Willimek und Willimek durch einen selbstkonstruierten Test an mehr als 2000 jugendlichen Teilnehmern als allgemeingültig bestimmt.
Emotionale Wirkungen von Harmonien nach Willimek/Willimek
Dur-Tonika | nüchternes Einverständnis |
---|---|
Moll-Tonika | Nicht-einverstanden-sein, Trauer (leise), Zorn (laut) |
Äolisches Moll | Mut, Abenteuer, Spannung, Gefahr, Härte |
Dominante | Bewegung, Fortstreben, Befreiung nach Molltonika: Übernahme des Mollcharakters, Stillstand |
Septakkord | Widerstand, Protest, Weinerlichkeit, Bremsen, Schrittbewegung nach Molltonika: Übernahme des Mollcharakters, Stillstand |
Zwischendominante | Vorausnahme des Charakters der erwarteten neuen Tonika; Enttäuschung, Schmerz, starke Betroffenheit Vor Durtonika: Hoffnung, Aufbruch zu Neuem |
Subdominante in Dur | Gelöstheit, Überschwang, Freude, Trunkenheit, Sieg, Feierlichkeit, Höhepunkt, Jubel, Zufriedenheit mit großer Septime: Wehmütiger Abschied, letzte Umarmung, Sehnsucht, Sehnsuchtstraum, Vergänglichkeitsgedanke |
Sixte ajoutée | in Dur: Geborgenheit, Gemütlichkeit, Treue, Warmherzigkeit, Wärme, Zweisamkeit, Liebe, Freundschaft in Moll: Einsamkeit, Trennung, Verlassenheit, Liebeskummer |
Neapolitanischer Sextakkord | Verschwinden, Tod, Verlassenheit, endgültiger Schmerz, Abschied für immer |
Verminderter Septakkord | Schrecken, Verzweiflung, Panik, Entsetzen, grüblerische Schwermut, Melancholie |
Übermäßiger Dreiklang | Staunen, Wundern, Überraschung, Zauber, Verwandlung |
Ganztonleiter | Zustände in Schwerelosigkeit, unter Wasser, im Weltall, im Traum |
Kleine Sexte | Bedrohung, Gefahr, Angst, Beklemmungsgefühle. |
Negative Harmonie
Negative Harmonie ist ein Konzept des Schweizer Musikologen Ernst Levy (1895–1981). Levy nimmt an, daß in jeder heptatonischen Tonleiter die erste, dritte und fünfte Stufe stabile Töne sind, auf welche eine Melodie harmonisch enden kann, während alle übrigen Töne nach Auflösung streben: die zweite Stufe nach oben oder unten, die vierte Stufe und sechste Stufe nach unten sowie die siebente nach oben. Dies hat Folgen für die Stabilität der aus diesen Tönen gebildeten Akkorde: Der Dur-Akkord (1., 3., 5. Stufe) ist stabil, der Dominantakkord (2., 5., 7. Stufe) sowie der Subdominantakkord (1., 4., 6.) wollen sich dagegen zum Dur-Akkord auflösen.
Literatur
- Wolfgang Lempfrid: Tonartencharakteristik
- Daniela und Bernd Willimek: Musik und Emotionen: Studien zur Strebetendenz-Theorie. Zuerst 1997.