vok:psychoakustik

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Psychoakustik ist ein Teil der Musikakustik, welcher sich mit der Wahrnehmung von Ton und Klang beschäftigt. Die Höreindrücke des Menschen werden nicht nur durch das menschliche Gehör und die auf dieses einwirkenden physikalischen Ereignisse (Schallereignisse) geprägt. Ein seit langem diskutiertes Kernproblem ist der musikalische Ausdruck.

Die Augen 'hören' mit

Die Augen "hören" mit

In verschiedenen Zusammenhängen hat sich erwiesen, daß akustische Eindrücke von visuellen Eindrücken beeinflußt werden können. Bekannt ist der 1976 von dem Psychologen Harry McGurk aufgezeigte McGurk-Effekt: Unser Gehirn korrigiert akustische Wahrnehmungen, um sie mit gleichzeitigen visuellen Wahrnehmungen (wie der Beobachtung der Lippenbewegungen anderer Sprecher) zu koordinieren. Auch Farben haben Einfluß auf die Geräuschwahrnehmung: Menschen, denen das Geräusch eines fahrenden Schnellzuges vorgespielt wird, während ihnen gleichzeitig Videoaufnahmen des Zuges gezeigt werden, halten rote Züge für lauter als alle anderen (obwohl die Geräusche in Wirklichkeit immer in derselben Lautstärke waren). Diese Effekte sind kulturabhängig: Bei Japanern ist der McGurk-Effekt schwächer und der Roter-Zug-Effekt stärker als bei Deutschen.1)

Eine Untersuchung mit Gitarrenbauern, Gitarrenspieler und Laien ergab gleichfalls, daß visuelle Eindrücke Qualitätsurteile über Klangholz beeinflussen:

Offensichtlich orientiert man sich für ein Gesamturteil vorwiegend optisch und votiert analog zu den Instrumentenbauern für einen engen, gleichmäßigen Jahrringbau. Ein Zusammenhang zwischen Jahrringbau und klanglichen Eigenschaften der Instrumente ist nicht erkennbar!2)

Ähnliches gilt für Performanz, also die Aufführung von Musik selbst. Insbesondere bei schnellen Partien, deren gelungene Aufführung von den Hörern als Virtuosität erlebt wird und die den raschen Wechsel der Handhaltung erfordern, kann es geschehen,

dass die visuell wahrnehmbaren Spielbewegungen und der klangliche Eindruck schwer vereinbar sind … Der Körper des Virtuosen, sein Instrument und seine Spielbewegungen sind offensichtlich nicht transparent …, sondern verursachen vieldeutige visuelle und audielle Reize.3)

Virtuosität und Geschwindigkeit

Virtuosität und Geschwindigkeit

Ob Musik tatsächlich virtuos vorgetragen wird, können ungeschulte Hörer meist nur partiell beurteilen. Nach Erkenntnis der Hirnforschung gleichen sich die im Gehirn auftretenden elektrischen Schwingungen (Oszillationen) beim Hören dem Rhythmus der Musik an. Dabei können ungeübte Hörer langsam gespielte Melodien allerdings schlechter erkennen als schnell gespielte.4) Dies erklärt, warum das Tempo einer Aufführung häufig irrig als Kriterium für ihre Qualität betrachtet wird:

Virtuose Darbietungen werden vom Publikum erkannt und immer honoriert – allerdings erkennt ein Nicht-Fachpublikum Virtuosität in der Regel nur in großer Geschwindigkeit. … Ein Nicht-Fachpublikum erkennt Tempo nicht absolut, nimmt aber sehr wohl wahr, wenn die Spieler an ihrer Geschwindigkeitsgrenze sind. Dann werden auch Ungenauigkeiten verziehen, denn die Stelle ist ja erkennbar „schwer“.5)

Das Tempo der Wiedergabe wirkt sich stark auf die Hörer aus, denn

Geschwindigkeit … ist ein Kriterium des emotionalen Gehalts von Musik.6)

Beispielsweise erwarten die Hörer, daß dissonante und Moll-tonale Musik schneller gespielt wird als Musik in Dur, weil sie die harmonische Auflösung erleben wollen.7)

Dabei scheinen universale Wahrnehmungsmechanismen zu wirken. Angehörige der afrikanischen Mafa-Kultur, die erstmals mit westlicher Musik konfrontiert wurden,

stuften Stücke mit höherem Tempo eher als fröhlich und Stücke mit niedrigerem Tempo als beängstigend / ängstlich ein, während für traurige Stücke kein Zusammenhang mit dem Tempo beobachtet wurde.8)

Konsonanz und Diaphonie

Konsonanz und Diaphonie

Je ähnlicher die Obertöne verschiedener Töne sind, desto besser scheinen sie zusammenzupassen; wir empfinden sie als konsonant. Dies gilt in absteigender Reihe für die Intervalle Prime, Oktave, Quinte, Quarte und Terz. Doch handelt es sich hierbei nicht um ein universales, sondern um ein kulturell geprägtes Empfinden. In einigen (räumlich und zeitlich nicht zusammengehörigen) Kulturen gibt es das Modell der Schwebungsdiaphonie, eine Mehrstimmigkeit, die versucht, Obertöne zu unterdrücken (insbesondere durch den Einsatz der Bruststimme) und durch das Phänomen der Schwebung – also durch gezielte Dissonanz – Töne so verschmelzen zu lassen, daß sie nicht mehr getrennt wahrgenommen werden. Hier überwiegen Terz- und Sekundparallelen.9)

Strebetendenz

Dur und Moll

Die Strebetendenz-Theorie versucht, die Wirkung von Dur- und Moll-Harmonien psychoakustisch zu erklären.

Die Wiederholung

Strukturelle Überwältigung

Eine universelle Besonderheit von Musik gegenüber Sprache sind häufige, gewollte Wiederholungen. Dies bezieht sich sowohl auf ihre Form als auch ihren Inhalt. Für den Hörer wird Musik, mit deren Formensprache er vertraut ist, deshalb in gewisser Weise „voraushörbar“. Andererseits prägen sich bestimmte musikalische Formeln und Themen durch ständige Wiederholung als „abgetrennte Sequenzen“ („chunked sequences“) ins Gedächtnis ein; es wird davon „besetzt“:

Dieser Zustand trägt zur Verbreitung von Ohrwürmern bei; sobald sie Ihren Verstand ergriffen haben, bestehen sie darauf, bis zu einem Punkt der Ruhe durchzuspielen, … ob Sie es wollen oder nicht. … Dieses Gefühl, bewegt zu sein, in Form einer prozeduralen Inszenierung ergriffen und mitgenommen zu werden, als das Wissen (durch einfaches Klingen) auf eine Weise präsentiert wurde, die einen aussagekräftigeren Modus zu implizieren schien, kann berauschend, einnehmend und grenzüberschreitend sein: alles Merkmale einer starken Musikerfahrung … Der Hörer fühlt sich von Musik durchdrungen oder mit ihr verschmolzen oder fühlt, daß er von der Musik gespielt wird, was den Hörer veranlaßt, sich als Interpret vorzustellen oder die Musik als Ausführung seines eigenen Willens zu erfahren …10)

Das Gänsehauterlebnis

Emotionale Überwältigung

Allerdings können die meßbaren Reaktionen des Publikums auf Musik sehr unterschiedlich ausfallen. Ein Extremfall ist das ziemlich seltene „Gänsehauterlebnis“ (chill reaction):

In zahlreichen Versuchsserien haben wir herausgefunden, dass Gänsehaut häufiger bei unerwarteten Änderungen in der Struktur des Musikstücks auftaucht, dass sie bevorzugt durch die Stimme und stimmähnliche Instrumente, etwa durch Streichinstrumente oder auch das Saxophon ausgelöst werden und dass eine Zunahme der Brillanz des Klanges ebenfalls dieses Erleben befördert. Zahlreiche Hörereigenschaften beeinflussen die Häufigkeit und Stärke der Gänsehaut. So existiert beispielsweise eine „Gänsehaut-Persönlichkeit“. Diese Hörer sind vertraut mit Musik, bewerten Musik als „wichtig für ihr Leben“, identifizieren sich mehr mit ihrer Lieblingsmusik und hören im Alltag häufiger Musik.11)

Psychoakustik der Ukulele

Die Fehlen-der-Baßnoten-Theorie

Häufig wird die Ukulele als fröhliches Instrument beschrieben. Jake Shimabukuro führt diese Wirkung darauf zurück, daß die hohe Tonlage der Ukulele den Eindruck erweckt, als würden die Baßnoten ihrer Akkorde fehlen. Dadurch würden die Akkorde als offen, leicht und heiter wahrgenommen. Diese Auffassung wird als „Fehlen-der-Baßnoten-Theorie“ bezeichnet. 12)

Literatur

  • Brian C. J. Moore: An Introduction to the Psychology of Hearing. Brill 2012
  • John R. Pierce: Klang: Musik mit den Ohren der Physik. Spektrum Akademischer Verlag, 1999
  • Juan G. Roederer: Physikalische und psychoakustische Grundlagen der Musik. Springer-Verlag, 3. Aufl. 2013

1)
Hugo Fastl: "Hören + Akustik = Psychoakustik". In: 16. Multidisziplinäres Kolloquium der GEERS-Stiftung 2012; Band 19, S. 67–73.
2)
Gunter Ziegenhals: „Resonanzholzmerkmale von Gitarrendecken“. In: Fachausschuss Musikalische Akustik in der DEGA (Hg.): (Musikalische) Akustik im Dienste des Musikinstrumentenbaus, Zwora, September 2001, S. 20–23.
3)
Camilla Bork: „Text versus Performanz – zu einem Dualismus der Musikgeschichtsschreibung.“ In: Michele Calella, Nikolaus Urbanek (Hg.): Historische Musikwissenschaft: Grundlagen und Perspektiven. Springer-Verlag 2017 S. 397–398
4)
Max-Planck-Gesellschaft: Musik im Gehirn, 26. Oktober 2015, Abruf: 22.8.2016.
5)
Utz Grimminger: Aspekte der Orchesterarbeit (2007), S. 5
6)
Johannes Flecker: Die Bedeutung von Musik für die Gestaltung von Markenpersönlichkeit. Heidelberg: Springer-Verlag 2014, S. 36
7)
Ebd. 36–37.
8)
Thomas Fritz u.a.: „Universal Recognition of Three Basic Emotions in Music“. In: Current Biology 19, 14.4.2009, S. 574
9)
Hierzu s. Marie-Theres Himmler: UE "Zur Vielfalt tonräumlicher Gestaltungsmöglichkeiten", Wintersemester 2009.
10)
Elizabeth Hellmuth Margulis: „Repetition and emotive communication in music versus speech.“ In: Frontiers in Psychology, 4.4.2013, p. 218
12)
Higashi, Guy Scott Shigemi: Musical Communitas: Gathering Around the 'Ukulele In Hawai'i and the Foursquare Church. Dissertation. Pasadena: Fuller Theological Seminary 2011. 119, 131